„Ich habe einen wunderbaren Beruf, weil es ums Wesentliche geht“

Einige Wochen, nachdem ich mit dem Aufbau des Dienstes begonnen hatte, habe ich gezweifelt. Bin ich dem wirklich gewachsen? Es war eine so komplexe Aufgabe. Ein Netzwerk aufbauen, Ehrenamtliche finden und qualifizieren, Öffentlichkeitsarbeit und Fundraising, die ganze Organisation. Ich hätte in dieser Zeit jeden Tag 16 Stunden arbeiten können und wäre doch nicht fertig gewesen.

Aber kurze Zeit später hatte ich endgültig das Gefühl: Ich bin an meinem Platz angekommen.

Im Juli 2007 habe ich begonnen, den Dienst für Erwachsene aufzubauen. Im November gab es die erste Anfrage – von den Eltern eines Kindes. Ein Junge von fünf Jahren. Das hat mich richtig durchgerüttelt. Irgendwie hatte ich an diese Möglichkeit nicht gedacht. 

Fünf Jahre später haben wir zwölf Kinder und Jugendliche ehrenamtlich begleitet. Damals haben wir begonnen, einen eigenen Kinder- und Jugendhospizdienst aufzubauen. Denn die Begleitung junger Menschen, das ist doch ein anderer und besonderer Auftrag.

Die Geschwister in den Blick nehmen

Nach einer Veranstaltung – ich hatte den Hospizdienst und seine Angebote vorgestellt – kam ein Mädchen zur mir. Hallo Frau Weymar, ich bin die Jacqueline. Ich bin elf Jahre und habe Krebs. Ich komme damit klar, aber meine Eltern musst Du mal besuchen.

In den zweieinhalb Jahren, die Jacqueline dann noch gelebt hat, haben wir die Familie eng begleitet. Ich erinnere mich gut an die ersten Besuche. Unterm Tisch im Wohnzimmer saß immer der kleine Bruder, vier Jahre. Als ich ihn angesprochen habe, sagte er: Ich bin nicht wichtig, Du kommst wegen meiner Schwester. Das hat mir klar gemacht, wie bedeutsam es ist, auch die Geschwister schwer kranker Kinder in den Blick zu nehmen. Wir haben für Sebastian dann einen Begleiter gefunden, der nur für ihn und seine Anliegen da war.

Den Menschen so nehmen wie er ist

Meine große Kraftquelle ist mein Glaube. Ich komme aus einer bäuerlichen Familie, da war der Glaube wichtig. Bei uns im Dienst sind wir bunt gemischt: Atheisten, evangelische und katholische Christen, Buddhisten. Das alles ist gleichwertig, niemand versucht, den anderen vom eigenen Weg zu überzeugen. 

Ich denke, das ist auch eine wichtige Voraussetzung für die Hospizarbeit: den Menschen, der Dir gegenübersteht, so zu nehmen wie er ist, ohne Wenn und Aber.

Wenn ich an meine Zeit als Krankenschwester zurückdenke, ist mir bewusst, dass im Umgang mit schwer kranken und sterbenden Menschen manches nicht stimmte. Ich wusste es damals nicht besser, und das bedauere ich immer noch. Bei jedem neuen Hospizkurs zünde ich eine Kerze an für alle Menschen, die ich nicht so begleitet habe, wie ich es heute machen würde.

Dankbarkeit, auch für Leid und Schmerz

Die letzten sechzehn Jahre waren eine sehr intensive Zeit, die mich verändert hat. Materielles ist unwichtiger geworden; es ist sowieso alles nur geliehen. Ich schätze heute viel mehr das, was man nicht kaufen kann: Begegnung, Gespräche, Verbundenheit. Was für ein wunderbarer Beruf, in dem es ums Wesentliche geht. Am Ende jedes Arbeitstages spüre ich große Dankbarkeit, auch wenn Leid und Schmerz da waren.

Mir scheint, dass wir Leid, Schmerz und Trauer in unserer Gesellschaft über einige Generationen nahezu ausgesperrt haben. Und plötzlich ist es durch die Pandemie und durch den Krieg sehr präsent. 

Im Dienst erleben wir seit einigen Jahren, dass es immer mehr Menschen gibt, die manchmal schon lange Zeit schwer an Ihrer Trauer tragen und niemandem haben, mit dem sie darüber reden können. Die nicht wissen, wie sie ihre Trauer ausdrücken können. Oft denke ich an das Zitat von Khalil Gibran: Du magst denjenigen vergessen, mit dem Du gelacht hast, aber nie denjenigen, mit dem Du geweint hast. Ist das nicht eine wunderbare Einladung, uns gerade mit unserem Schmerz und unserer Verletzlichkeit zu zeigen?

Johanna Weymar

Johanna Weymar
ist 43 Jahre jung, als sie einen Qualifizierungskurs zur ehrenamtlichen Hospizbegleiterin macht. Am Ende des Kurses wird sie gefragt, ob sie sich vorstellen könne, einen Ambulanten Hospizdienst in der Region Bad Salzungen und Rhön aufzubauen. Konnte sie. Sechzehn Jahre später, 2022, gibt es ein ambulantes Hospiz-Zentrum mit einem Dienst für Erwachsene, einem Dienst für Kinder und Jugendliche und einem Trauer-Zentrum.