„Das hätten wir uns nicht träumen lassen“

Wir hören nicht gut genug auf den Patienten, das wurde mir als Intensivmediziner sehr bewusst. Wer Leben um jeden Preis erhalten möchte, fragt sich eher selten: Was ist ein lebenswertes Leben?

In der Ausbildung zum Schmerztherapeuten habe ich gerade bei Tumor-Patienten gemerkt, dass sie viel mehr brauchen als den Arzt, der ihnen ein Medikament verschreibt und sie nach Hause schickt. Das geht es um Zuwendung, ein Gespräch, ein ehrliches Wort. Der intensive Kontakt zu den Menschen, den ich hier erlebt habe, der hat mich wohl auf diese Schiene gesetzt: Wie kann es gehen, das Ende des Lebens zu einem möglichst guten Ende zu machen?

Privat habe ich Hospiz gelernt, von der Pike auf. Hospizhelferkurs, Ausbildung zum Multiplikator. Wir waren nur einige, die 1996 in Suhl eine ehrenamtliche Hospizgruppe auf die Beine gestellt haben. Damals gab es in Thüringen gerade mal vier, fünf solcher Gruppen. Dass sich aus dieser Bewegung ein Landesverband entwickeln würde, der 25 Jahre später mehr als 50 Mitglieder hat, eine eigene Akademie und mehr als tausend Ehrenamtliche – das hätten wir uns nicht träumen lassen.

Die Palliativstation ist nicht die Sterbestation.

Ich hätte gerne eine Palliativstation im Suhler Krankenhaus aufgebaut, aber die Geschäftsführung hat abgelehnt. Palliativ? Interessant, aber nicht für uns. Da habe ich das in einem kleineren Krankenhaus in Schmalkalden gemacht, die mich als Chef geholt haben. Es war die dritte Palliativstation in Thüringen, also noch Pionierarbeit. 

15 Jahre später bin ich zurück in die Klinik nach Suhl. Die hatte zehn Palliativbetten und etwas mehr als einer halben Arztstelle dafür. Bau die Station aus, das war mein Auftrag. Manchmal dauert es eben etwas länger. 

Heute haben wir in Suhl vierzehn Betten. 21 Menschen arbeiten hier: Psychologin, Sozialarbeiterin, Seelsorger, Therapeutinnen, 15 Pflegekräfte und fünf Ärzte. Palliativ, das ist gleichberechtigtes Arbeiten im Team. Wir nehmen uns viel Zeit, um uns auszutauschen. Kleine Dienstwege, möglichst wenig Hierarchie. Jeder ist im engen Kontakt mit den Patienten.

Auch wenn es manchmal noch falsch verstanden wird: Die Palliativstation ist nicht die Sterbestation. Unser Ziel ist es, Schmerzen zu lindern und die Lebenssituation zu verbessern. Ich habe Patienten über zwei, drei Jahre begleitet. Sie waren immer mal wieder bei uns, und dann haben wir Postkarten aus London oder aus den Bergen bekommen.

Ich bin dankbar für die kleinen Dinge.

Was sich bei mir verändert hat durch die intensive Beschäftigung mit dem Ende des Lebens? Ich bin dankbar für die kleinen Dinge, die mir in den Schoß fallen. Der Sonnenaufgang. Spielen mit der Enkelin. An einen Baum gelehnt einfach nur dasitzen. Ich schiebe Dinge, die ich mit meiner Familie gerne machen möchte, nicht auf, sondern tu sie jetzt.

Wenn ich uns Menschen etwas verschreiben könnte, dann wäre es mehr Mut fürs Nachdenken darüber, dass das Leben endlich ist. Und wenn ich uns Medizinern etwas verordnen dürfte, dann wäre es, dass wir uns viel mehr um den Menschen in seiner Ganzheit kümmern.

Thomas Günther

Thomas Günther

hat Medizin in Leipzig studiert: Anästhesie und Intensivmedizin sind seine Gebiete. Während der Ausbildung zum Facharzt qualifizierte er sich zusätzlich zum Schmerztherapeuten – und über die Schmerztherapie kam er zur Palliativmedizin. Der 60-Jährige gehört zu der Handvoll Menschen, die Anfang der 90er Jahre in Thüringen das begründeten, was später Hospizbewegung genannt wurde.